Quelle: a|w|sobott, André Sobott

Spezialgebiet Bestandsbau –

Wahrheiten aus der Planungspraxis.

Der Bestandsbau hat seine eigenen Gesetze. Das weiß Kerstin Guntelmann, Planungskoordinatorin bei LIST BiB Bielefeld, nur zu gut. Sämtliche Planungsleistungen müssen eben nicht nur untereinander koordiniert, sondern ebenso mit der bestehenden Immobilie in Einklang gebracht werden. In Kerstins Augen der besondere Reiz an ihrem Job. Sie lässt uns daran teilhaben und gibt uns ein paar Einblicke.

Ebenso Argumentationsgrundlage als auch Unsicherheitsfaktor.

Ich sage immer: Wir sind in der komfortablen Situation, mit einem Bestandsgebäude arbeiten zu können. Im Neubau ist entwurfstechnisch ja alles möglich. Wir haben einen ganz klaren Rahmen mit unserem Bestandsgebäude, in dem wir uns bewegen können. Und diesen Rahmen kann man sich vor Ort gemeinsam anschauen und muss ihn sich nicht vorstellen, wie beim Neubau. Die Medaille hat aber natürlich zwei Seiten. Die größte Herausforderung wiederum ist es, dass wir es mit deutlich mehr Risiken zu tun haben als im Neubau. Entsteht eine neue Immobilie, sind für die Bauphase der Baugrund und das Wetter die wichtigen und nicht beeinflussbaren Risikofaktoren. Bei uns gibt es mehr Risiken zu bewerten, wie zum Beispiel die Statik, die Gebäudetechnik, die Kontamination und den Brandschutz. Deswegen starten wir vor Ort immer mit einem großen Aufgebot. So gesehen wird jedes Projekt für uns zu einer echten Entdeckungsreise.

Im Bestand macht auch der GU noch Grundlagenermittlung.

Klassischerweise steigen wir in die Projekte ein, wenn die ersten drei Leistungsphasen abgeschlossen sind und der Bauantrag gestellt ist. Im schlüsselfertigen Neubau würde das bedeuten, dass man auf Basis der bereits definierten Grundlagen direkt mit der Ausführungsplanung starten kann. Aus noch groben Angaben wird eine feinere Planung, in der man all das im Detail definiert, was man für die Ausführung später benötigt. Eine Art Vertiefung, die im Bestandsbau zweistufig stattfindet. Zunächst ermitteln wir die Grundlagen vor Ort. Für die ersten drei Leistungsphasen ist es nicht relevant, ob zum Beispiel die Decke im Raumverlauf um zwei oder um vier Zentimeter abfällt. Für uns kann das in der Leistungsphase fünf aber durchaus eine große Rolle spielen. Deshalb untersuchen wir den Bestand sehr genau und nehmen mithilfe unserer Partnerfirmen und eines 3D-Scanners das Bestandsgebäude auf. Als Ergebnis erhalten wir eine sehr detaillierte Punktwolke, die unsere Grundlage für die weitere Ausführungsplanung in einem 3D-Modell ist. Anhand der Punktwolke können permanent Maße abgegriffen werden, ohne auf der Baustelle mühsam einzeln den Bestand messen zu müssen.

Mit einem Hinweis ist es nicht getan.

Trotz der gründlichen Bestandsaufnahme und -untersuchung kann nie alles im Vorfeld zu 100 Prozent geplant werden. In der Bauphase kommt es grundsätzlich zu Überraschungen durch den Bestandsbaukörper. Und genau dann ist man wieder in der baubegleitenden Planung. Nicht gewollt – aber so gut wie nie zu verhindern. Stellen wir ein größeres Problem am Gebäude fest, das eine Abweichung vom Geplanten oder vom Vertrag zeigt, müssen wir unseren Auftraggeber darauf hinweisen. Aber nur der Hinweis bringt uns nicht weiter. In solchen Fällen empfehlen wir mögliche Sanierungslösungen oder erarbeiten gemeinsam oder mit unabhängigen Dritten eine ausführbare Lösung. Gemeint sind hier als Beispiel Eingriffe in die Statik oder in den Brandschutz, die erst nach Abriss oder Entkernung erkannt werden können. Hier liegt der besondere Fokus auf der technischen Machbarkeit sowie auf den Auswirkungen auf Kosten und Termine. Ich habe in meiner ganzen Laufzeit aber noch nie einen Fall gehabt, in dem es keine Lösung gab. Geht nicht – gibts nicht!

Zwangspunkte brauchen individuelle Lösungen.

Es gibt sie eigentlich in jedem Projekt – Zwangspunkte, die Sonderlösungen erfordern. Beim Bauen im Bestand ist es häufig notwendig, individuelle und regelkonforme Sonderlösungen zu erarbeiten. Dafür gibt es im Projekt grundsätzlich ausgesuchte externe Planungsteams zum Beispiel in den Bereichen Architektur, Statik oder Brandschutz. Aber auch unser Team von LIST Ingenieure unterstützt uns jederzeit. In unserer Mannschaft „Bauen im Bestand“ habe ich ein Kollegium mit jahrelanger praktischer Erfahrung in den Bereichen der Fassadenplanung und -fertigung, Rohbauausführung, TGA-Planung und -Montage, Architektur und Wärmeschutz. Sie alle unterstützen mich in einem Gespräch „über den Tisch“ für schnelle Lösungen. (Vielen Dank nochmal an ALLE – ihr seid großartig!) 

Organisationstalent gefragt.

In meinem Arbeitsalltag geht es in der Regel um Entscheidungen, die sich stark gegenseitig beeinflussen. Da sollten sämtliche Gewerke vorab miteinander abgestimmt sein. Hierzu ein Beispiel: Vor zwei Jahren haben wir das Wort „Deckenspiegel“ augenzwinkernd zu unserem internen Unwort des Jahres ernannt. Weil es zu diesem Thema in einem Projekt so enorm viele „Abstimmungsschleifen“ gab. Nachdem der Grundentwurf zweimal intern technisch und architektonisch überarbeitet wurde, folgten Änderungswünsche des Bauherrn zu der technischen Ausführung der Sprinklerköpfe und eine Ausführung mit anderen Leuchten. Auch das GK-Fries sollte aus optischen Gründen geändert werden. Also: ganz andere Optik – Entwurf und Berechnungen wieder bei null. Nach mehrfachem Austausch zwischen dem Architekturbüro und dem eigenen Team, unzähligen Telefonaten und Hunderten von Handskizzen erreichten wir bei erneuter Vorlage beim Bauherrn ein „Sieht gut aus – so machen“.  Danach folgten noch unzählige andere Bereiche mit Deckenspiegeln, die in der gleichen Art und Weise erstellt wurden. Wir finden nach wie vor: Das Ergebnis war die Mühe wert. 

Manchmal sollte man es auch nicht zu genau nehmen.

Wie gerade erklärt, verbringe ich viel Zeit damit, die Themen abzustimmen. Das mache ich natürlich nicht immer in der gleichen Detailtiefe. Geht es erst einmal nur darum, eine Idee in den Umlauf zu bringen und Meinungen dazu einzuholen, arbeite ich gerne mit Handskizzen. Wer sagt, dass das oldschool ist – vor allem weil wir auch in 3D planen –, der irrt. Mit dem Computer verliert man sich in exakter Darstellungstechnik, bei der jeder Strich sitzen muss. Eine Handskizze ist für die Klärung der Grundsätzlichkeit völlig ausreichend und hat einen eigenen Charme. Außerdem zeichne ich einfach gerne. Zettel und Stift habe ich deshalb auch (fast) immer mit dabei.